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Maifeiertag
  • Das Recht auf Rausch

    Von Fiona Ehlers


    08.12.2002


    Jung, reich und häufig depressiv: Mian Mian, die Chronistin des chinesischen Undergrounds, schreibt über Jugendliche in Shanghai. Sie muss selbst noch lernen, frei zu sein.


    Es wird Nacht in Shanghai, Samstagnacht, ein roter VW-Santana kriecht die Hochstraße zum Bund entlang, Shanghais Boulevard der Illusionen. Rushhour, nichts geht voran. Auf der Rückbank des Taxis bläst Mian Mian, 32, den Rauch ihrer Zigarette durchs offene Fenster. »Fuck you«, flucht sie und sucht die Augen des Taxifahrers im Rückspiegel. Ihre Stimme ist heiser, das ist sie seit zehn Jahren, seit jener Zeit, als Mian Mian auf Heroin war und beinahe starb.


    Mian Mian ist die Chronistin des Nachtlebens von Shanghai, Königin der Subkultur, jeder kennt sie in dieser Stadt. Als Chinas erste Underground-Autorin hat sie jene Jugend beschrieben, die westliche Soziologen jetzt »Generation Cash« nennen oder »Fly Generation": Jugendliche, fast Kinder noch, die durchstarten wollen wie Düsenjäger. »Schneller«, befiehlt sie dem Taxifahrer, »rasen!« Rasen durch diese Traumlandschaft, in der alles neu und machbar scheint. Aufstieg und Ruhm. Reichtum und Glück.


    Das Taxi hält vor einem alten Lagerhaus. Die neue Bourgeoisie ist gekommen, reiche Chinesen, 18 bis 30 Jahre alt. Sie wackeln mit ihren Köpfen im Takt der Beats, Head-Shaking nennen sie das in Shanghai, tanzen mit Ecstasy im Kopf. Sie klauen den Volkspolizisten am Eingang die Dienstmützen vom Kopf, setzen sie auf und lachen. Head-Shaking in Shanghai, und die Partei, die immer wieder Clubs dichtmacht wegen Drogenmissbrauchs und Prostitutionsverdachts, diese Partei schaut zu, bewegungslos.


    Mian Mian, die zierliche Frau im engen schwarzen Kleid, klettert auf das Podest des DJ, sie reißt ihre Arme in die Luft, dirigiert die Masse. Es ist ihre Party, sie hat die Musik organisiert, Flyer verteilt, ihre Freunde geladen. Es ist weit nach Mitternacht, Mian Mian fordert ihr Recht auf Rausch. Vor wenigen Jahren noch, sagt sie, hätten Chinesen getanzt, als ob sie kämpfen würden, wie Marionetten beim Schattenboxen. »Jetzt haben wir gelernt, frei zu sein, wir selbst.« Neben ihr schütteln sich Casper, ihre beste Freundin, sie hat wohl wegen wilder Jahre keine Vorderzähne mehr, und Coco, der schwule Jazz-Sänger. Er hat sich eine Federboa um den parfümierten Hals gehängt.


    Sorgen werden sie sich erst morgen wieder, um den Weg, den sie gehen wollen in ihrem Leben, und den ihnen niemand zeigen kann. Weil ihn vor ihnen noch niemand gegangen ist. »Ich will reich sein«, sagt Mian Mian, die berühmt ist, seit der Westen ihre Texte entdeckte - so etwas hatte man zuvor nie gehört aus dem geheimnisvollen Reich. Dadurch wurde Mian Mian auch in China bekannt, sie wurde verboten. Das hilft ihr dabei, das zu werden, wonach sie strebt: »Reich und berühmt«. Nur so, sagt sie, könne man in Shanghai überleben.


    Mian Mian, die Chronistin, hat aus ihrem Leben ein Drehbuch gemacht, und Andrew Cheng, der Regisseur, hat es jetzt verfilmt. Ihr Doku-Drama »Shanghai Panic« soll die Wahrheit der Stadt erzählen. Coco, der schwule Sänger, spielt mit, Casper, die Frau ohne Vorderzähne. Mian Mian spielt Kika, die Hauptfigur, es ist die Rolle ihres Lebens. »Shanghai Panic« erzählt von Aids, homosexueller Liebe, von Drogen und der Einsamkeit nach dem Rausch. Es geht um Einzelkinder, die kleinen Kaiser Chinas, die plötzlich merken, dass sie erwachsen sind und ihre neuen Träume vom Luxus sie zu Sklaven machen. Jetzt gibt es alles für die, die Geld haben und nicht wissen, wohin. »Ihre Eltern haben viel durchgemacht«, sagt Regisseur Cheng, die Kulturrevolution, das Ende der Demokratiebewegung, »aber sie hatten etwas, woran sie glauben konnten.«


    Sorgen werden sie sich erst morgen wieder, um den Weg, den sie gehen wollen in ihrem Leben, und den ihnen niemand zeigen kann. Weil ihn vor ihnen noch niemand gegangen ist. »Ich will reich sein«, sagt Mian Mian, die berühmt ist, seit der Westen ihre Texte entdeckte - so etwas hatte man zuvor nie gehört aus dem geheimnisvollen Reich. Dadurch wurde Mian Mian auch in China bekannt, sie wurde verboten. Das hilft ihr dabei, das zu werden, wonach sie strebt: »Reich und berühmt«. Nur so, sagt sie, könne man in Shanghai überleben.


    In Wirklichkeit war mein Leben viel härter, erzählte Mian Mian den Westjournalisten, als ihr Kurzgeschichtenband »La la la« in Europa erschien. »Scheiße, haben wir um der Freiheit willen die Kontrolle verloren?«, fragt eine ihrer Figuren darin, es ist auch die zentrale Frage in Mian Mians Leben.


    Mian Mian war 17 Jahre alt, als sie die Schule schmiss, ein »Troublegirl«, schlau, aber faul. Es war ihr zu eng geworden in dem Arbeitersilo, in dem sie lebte mit ihrem Vater, einem Ingenieur, und ihrer Mutter, einer Russischlehrerin. Mian Mian ging nach Shenzhen, der Glitzerstadt vor den Toren Hongkongs. Zu einer Zeit, als in Shanghai die ersten Supermärkte eröffneten, organisierte Mian Mian Partys, machte Musik und Erfahrungen mit Männern und Drogen. Sie war drei Jahre lang auf Heroin. In der Entzugsklinik, wo sie eingesperrt war mit Psychokranken, begann sie mit dem Schreiben - über Blowjobs, Selbstmordversuche, Drogenexzesse. Sie hatte ihr Heilmittel gefunden.


    Nach dem Buch ist jetzt auch »Shanghai Panic«, der Film ihres Lebens, verboten in China. Auf Filmfestivals wie der Berlinale aber wird er gehandelt als Geheimtipp, gerade hat er in Kanada den Dragons & Tigers Award gewonnen. Weil er zeigt, was es früher nicht geben durfte: chinesische Subkultur, provokant und wahr.


    Am Tag nach der Party kauert Mian Mian auf dem Sofa in ihrer Wohnung, einem teuren Apartment im Zentrum. Vor dem Lift steht ein Wachmann, am Herd ihre Köchin. An den Wänden hat Mian Mian Bilder von Zhou Tiehai gehängt, einem Maler aus Shanghai. Es sind Fotocollagen, der Künstler hat sich auf die Titelblätter von Magazinen montiert, »Time«, »Newsweek«, SPIEGEL. Er ironisiert die westliche Kritik, er spielt mit den Marketingstrategien des Kunstbetriebs: Nur wer dort drauf ist, ist drin. Und wer aus China kommt, den muss die Partei mindestens verboten haben.


    »Sollen wir uns einlassen auf die Kunstmafia des Westens«, fragt Zhou Tiehai, »oder verlassen auf unsere künstlerischen Wurzeln?« Mian Mian mag Zhou Tiehais Bilder, weil sie wie Warnschüsse sind: nicht das Spiel gewinnen - die Regeln ändern, besinnen auf verschüttete Werte. Zhou Tiehai malt jetzt Bäume vor chinesischen Gebirgen. Im Westen verblasst allmählich sein Ruhm.


    Im Regal neben ihren Büchern hat Mian Mian ein Foto aufgestellt von ihrer zweijährigen Tochter. Sie gab ihr den Namen Prudence, Lebensweisheit. Prudence ist fort, seit Mian Mians Ex-Mann, ein Brite, sie mit in seine Heimat genommen hat. Jetzt lässt sich Prudence nicht mehr in den Arm nehmen von der fremden chinesischen Frau. Mian Mians Traum von der Liebe ist nicht wahr geworden in dieser Stadt. »Alle meine Freunde haben Depressionen, wir trösten uns gegenseitig.« Shanghai sei kalt und unbarmherzig, irgendwie unwirklich.


    Um mitzuhalten mit dem Tempo ihrer Stadt, darf Mian Mian niemals Nein sagen. An einem schwülen Tag steht sie zwischen Pissrinnen und gekachelten Wänden auf dem Männerklo einer Shopping-Mall - ein Fotoshooting für die chinesische Ausgabe von »Harper's Bazaar«. Sie krächzt in ihr winziges, perlmuttfarbenes Handy, gibt Interviews. Stilisten rücken ihr die Sonnenbrille gerade und reichen ihr Zigaretten. Klo bedeute Provokation, findet die Redakteurin. China sei ein großer Markt, er müsse erobert werden. »Schaffe ich es aufs Titelbild?«, fragt Mian Mian, sonst lächeln da ja bloß blonde Models. Mian Mian lächelt nie. »Wir arbeiten daran«, sagt die Redakteurin.


    Mian Mian weiß, was sie erwartet, wenn sich jemand mit ihr schmücken will, mit ihr, dem verwegenen »Shanghai Baby«. Sie hat es akzeptiert, dass die Leute ihr Namen geben, jetzt, wo es schick ist, jemand zu sein in China, und nicht mehr so wie alle. Sie sitzt als Ehrengast in der ersten Reihe einer Modenschau, umworben aber einsam. Sie fliegt nach Peking, ein Essen mit ihrem Verleger, die Werbetour für ihr neues Buch muss besprochen werden. Sie macht mit, und sie weiß sich zu inszenieren, aber dann knallt sie plötzlich ihre Handtasche auf den Tisch. Sie schreit: »Ihr wollt bloß mit mir Geschäfte machen, ihr versteht mich nicht«, sie heult, sie läuft davon. Ihr Verleger isst weiter, er kennt das schon. »Shanghai ist weiblich«, sagt Mian Mian über ihre Heimatstadt, weiblich wie sie selbst, »verwöhnt, egozentrisch, launisch.«


    Shanghai nähre die Illusion, dass alle Träume wahr werden, sagt Mian Mian am Ende von »Shanghai Panic«. »Das Einzige was ich tun kann, ist, zu versuchen, nicht mehr darauf reinzufallen.« Dann ist wieder eine Nacht vorüber, und die Sonne geht auf über dem Bund, Shanghais Boulevard der Illusionen.


    Quelle: https://www.spiegel.de/politik…02-0001-0000-000025879538

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